Des Nachts hatte ich seltsame Geräusche vernommen, die sicher von Tieren verursacht worden waren, ansonsten gab es keine Auffälligkeiten. Nur war mein Schlaf ein leichter gewesen. Gegen fünf Uhr wurde ich wach, eine Stunde später war ich unterwegs. Als ich den Haupttunnel verließ, wurde ich von einem neblig-trüben Tag begrüßt.
Nach kurzer Zeit kam ich an einer Quelle vorbei, deren zugehöriger Rastplatz stark vermüllt war. Ich füllte die Flaschen wieder mit Wasser und wusch Wäsche. Dann fuhr ich weiter entlang des Flusses, der sich langsam in einen Stausee verwandelte. 200-300 Höhenmeter hatte ich bestimmt erradelt, die Straße hatte viele Tunnel und Brücken. Wegen des Nebels versäumte ich sicher einige schöne Aussichten.
Zweimal wurde ich nach dem Weg gefragt. Einmal von einem deutsch sprechendem Paar in einem schwarzem VW Golf, einmal von Kroaten. Wie kommt man eigentlich auf die Idee, dass ein schwer bepackter, sich offensichtlich auf größerer Tour befindender Radfahrer sich besser auskennt als der Durchschnittsautofahrer mit seinem Atlas? Wie auch immer, helfen konnte ich trotzdem.
Insgesamt war die Strecke bis Gorazde sehenswert: Verstreute Häuser auf Berghängen, einzelne Dörfer, Felsen. Der Nebel hatte sich auch gelichtet. In Nove Gorazde gab ich drei Postkarten auf, nachdem ich von einem Geldautomat in paar Neue Mark an Bank abgehoben hatte.
In Gorazde fuhr ich Richtung Busbahnhof. Ein Bus nach Sarajevo würde in einer Viertelstunde fahren, mit 13,- NM wäre ich dabei. Da kein Busfahrer aufzufinden war, verlud ich das Fahrrad und Packtaschen selbst in den Unterflurstauraum. Dabei musste ich bereits verstautes Gepäck neu arrangieren. Zwei Männer halfen mir unaufgefordert.
Im Bus machte ich ein Nickerchen, dann unterhielt ich mich mit Slaw. Er war mit seinen zwei etwa zehnjährigen Töchtern unterwegs, um Verwandte besuchen - in Belgrad, Gorazde und Sarajevo. Seit 15 Jahren lebte er in Kanada. Wegen des Kriegs war er mit Hilfe seines Schwagers über die Slowakei zu seinem Bruder nach Kanada gelangt.
In Sarajevo war mein nächstes Ziel der Bahnhof, um einen Zug Richtung Slowenien zu finden. Auf dem Weg dahin stolperte ich über einen Schnellimbiss, bei dem ich Ćevapčići zu Mittag aß. Das Essen war in Ordnung, aber die Betreiber des Geschäfts könnten Verwandte von August und Jette Deibelschmidt sein. :-) Am Bahnhof fragte ich nach einem Zug Richtung Bihac oder Banja Luka: 21:27 und am nächsten Morgen 10:27 würde jeweils einer bis Bosanski Novi fahren. Die Fahrkarte sollte etwa 30 NM kosten.
Ich würde erst einmal durch Sarajevo bummeln und vermutlich den Abendzug nehmen. Erstmals in diesem Urlaub wurde ich von einer verärgerten Person angehupt. Es war eine junge Frau, die einen hinter mir fahrendem PKW steuerte. Die anderen Insassen machten "meschugge"-Zeichen. Sie hatten wohl allesamt einen schlechten Tag. Außer von diesen Quotenidioten hatte ich nirgends ähnliche Unmutsbekundungen wahrgenommen.
Ich fotografierte einige Sehenswürdigkeiten und bummelte durch einen kleinen Park. Eine bunte Mischung von Leuten saß auf den Bänken: Junge Erwachsene, Teenager, Familien mit Kindern und hoffnungslos dreinblickende Alte. In einem Freiluft-Eiscafé mit Plüschsesseln verzehrte ich einen Eisbecher mit drei Sorten. Der Mann, der den Eisbecher füllte, tunkte dabei die langen Ärmel seines Pullovers in die Eisbehälter. Das Eis schöpfte er mit einem Eislöffel, den er dann als mein Besteck in den Eisbecher drückte. An einer Wasserstelle nahebei machte ich mich frisch und füllte Wasser nach.
Dann landete ich in der Baščaršija, die ich genießerisch durchschlenderte. Einiges an Süßigkeiten kaufte ich ein - fast zuviel für mein Gepäck, aber zuwenig für meinen Appetit. Dann endlich konnte ich ein passendes Basecap erstehen. Von 20 NM hatte ich es auf 15 "heruntergehandelt". Der Verkäufer tat sehr gleichgültig; es wahr wohl noch immer ein guter Preis für ihn. Mit einer jungen Frau vor seinem Geschäft schwatzte ich noch ein wenig.
Dann kam ich an der Gazi-Husrev-Beg-Moschee vorbei, in der gerade aus dem Koran (vermutete ich) vorgelesen wurde. Ich zog meine langen Hosen über, ging mit dem Fahrrad hinein und setzte mich auf den Boden des Vorplatzes, auf dem viele Männer auf Matten saßen. Hier waren Männer, Frauen und Kinder bunt verstreut, vermutlich großenteils Besucher. Einige verfolgten die Lesung in eigenen Exemplaren des Koran.
Neben mir machte ein junger Mann Platz auf seiner Matte und bedeutete mir, mich neben ihn zu setzen. Links des Moscheeeingangs saßen Frauen, großenteils hinter einem Sichtschutz, rechts saßen die Männer. Ich fragte den jungen Mann auf englisch, ob Frauen schon immer der Zugang zu den Moscheen erlaubt sei. Er konnte mir die Frage nicht beantworten. Dann fragte er mich, woher ich komme - er ist aus Schwaben. Auf Deutsch verstand er meine Frage richtig. Ja, die Frauen dürften schon immer die Moscheen besuchen; allerdings räumlich getrennt von den Männern. Seine sechzehnjährige Tochter habe den Koran aus eigenem Antrieb auf arabisch durchgelesen, sein Sohn sei damit gerade beschäftigt.
Er selbst ist Kind von Gastarbeitern, die 1970 in die BRD kamen und spricht kein Arabisch. Gerade ist Ramadan; er findet es schön, mit Freunden und Verwandten diese Zeit zusammen in einer Moschee zu verbringen und den Lesungen zuzuhören. Dann war Zeit zum Gebet: alle Gläubigen versammelten sich auf Gebetsteppichen und beteten gemeinsam Richtung Mekka. Jedes Mal beim Niederbeugen und beim Wieder-Hinknien gab es einen dumpfen Schlag von der gemeinsam ausgeführten Bewegung.
Nach dem Gebet strömten die Gläubigen aus Moschee und Vorhof, ich wanderte ein wenig umher. Nachdem keiner mehr aus der Moschee kam, wollte ich hinein. Einer der letzten Herauskommenden sagte etwas zu mir, das wie "closed" (geschlossen) klang. Ich stellte meine Sandalen ins Schuhregal und ging hinein; an der Tür wurde ich von einem älteren Mann aufgehalten und wieder nach draußen geschickt. Ganz verdattert und in Gedanken wollte ich die Sandalen anziehen und stellte sie dabei auf den Holzrost, der wohl nur ohne Schuhe betreten werden darf. Ich bemerkte meinen Fehler erst, als ein Gespräch links von mir verstummte und mich eine Frau groß ansah. Ich sagte "I'm very sorry" (Tut mir sehr leid) und stellte die Sandalen hastig auf den Boden.
Dann ging ich zu einem Seiteneingang, traf den abweisenden Mann von vorhin wieder und lächelte entschuldigend. Er bedeutete mir: 1 Minute! Ich ging ins Innere der Moschee: schlicht und schön, nicht so überladen wie manche Kirchen. Nach (viel zu) kurzem Umschauen legte ich die Hand auf meine Brust und verbeugte mich leicht gegen den "Schließer", der mich mit einem Lächeln verabschiedete. Draußen stellte ich an einem Aushang fest, dass die Öffnungszeiten der Moschee außerhalb des Ramadan nicht so restriktiv sind. Den Schwaben traf ich noch einmal, für die weitere Reise wünschte er mir alles Gute.
Dann war ich zurück auf der Straße, zog die langen Hosen aus und bummelte weiter. Noch zweimal kaufte ich Eis. Beim ersten Mal war die Bedienung leicht pampig, alle drei Kugeln leicht "kratzig" und teils fad. Beim zweiten Mal unterhielt ich mich mit dem Verkäufer; das Eis sei selbstgemacht. Die Geschmacksrichtung Cappuccino war rundum prima, die anderen beiden Kugeln ebenfalls kratzig (mit Klumpen darin).
Nach einer Dramödie namens "Kleine Wäsche in öffentlicher Toilette" in drei Akten, einigen weiteren Erlebnissen und Erwerb einiger Lebensmittel war ich wieder am Bahnhof. Dort traf ich zwei junge Frauen mit großen Rucksäcken in Sandaletten, die mit ihren Hüten und dem blonden zu Zöpfen geflochtenem Haar "deutsch" aussahen. Auf meine diesbezüglich Frage: "No, we are from Australia. Goodbye!" (Nein, wir sind aus Australien. Tschüss!). Schade, wir hätten uns sicher einiges erzählen können. Vielleicht hatten sie schon genug blöde Anmachen erlebt, dass sie lieber für sich blieben. Dass sie stark erkältet waren, dürfte ihre Laune nicht gebessert haben.
Als ich das Ticket für das Fahrrad und mich bezahlen wollte, wurden 35,10 NM verlangt. Ich hatte meine Barschaft auf die am Vormittag genannten 30 NM optimiert... Nun durfte ich meine letzten 50 Euro Bares in der neben dem Bahnhof liegenden Zentralpost tauschen. Die Frau am Schalter wollte meinen Pass sehen. Den hatte ich noch im Gepäck am Fahrrad, das im Bahnhof stand. Auf meine Frage, wozu das nötig sei: "Take it or leave it!" (sinngemäß: Friss oder stirb!). Zurück zum Bahnhof, zurück zur Post, wo ich diesmal genau so höflich war wie die Dienst-nach-Vorschrift-Schalterdame, wieder zum Bahnhof und das Ticket gekauft.
Nun startete ich den zweiten Versuch der Wäsche auf einer Toilette (Kosten: 1NM). Diesmal ging es ganz gut, auch wenn die Toilettenfrau komisch dreinschaute. Dann schrieb ich Reisetagebuch, bis ich 21:10 zum Bahnsteig ging. Die drei hinteren Taschen und das Fahrrad trug ich einzeln nach oben.
Nach Anweisung des Zugbegleiter (ZUB) - soweit ich sie glaubte verstanden zu haben - stellte ich die Taschen ganz vorn und das Fahrrad ganz hinten in den Zug. Platz nahm ich in der ersten Klasse nahe meines Gepäcks. Eine junge Frau im Abteil nebenan fragte ich, ob die ZUB die Klassen unterscheiden - die Antwort klang nicht so.
Dann schmökerte ich bisschen in den Landkarten, schrieb Tagebuch und sinnierte vor mich hin. Schließlich zog ich die Schuhe aus und legte mich lang hin. Dann kam der ZUB mit der jungen Frau von nebenan als Dolmetscherin: ich solle das Gepäck in mein Abteil bringen, da es gestohlen werden könnte. Dann sollte ich ihm folgen und das Fahrrad vom Zugende zu einem kleinen Abteil für Fahrräder bringen. Dort waren drei Haken zum Aufhängen von Fahrrädern vorhanden. Dann bedeutete er mir noch, dass ich das Rad anschließen solle, was ich auch brav erledigte. Dann sinnierte ich in meinem Abteil noch ein wenig, bis ich mich überredete, zu der jungen Frau im Abteil nebenan zu gehen. Über meine Gesellschaft schien sie durchaus erfreut. Wir gingen mit ihrem Gepäck in mein Abteil, damit nichts unbeaufsichtigt blieb.
Sie hieß Enica, besucht gerade Eltern in ihrer Geburtsstadt. Sie sprach lieber Deutsch als Englisch - sie hatte es gelernt, als sie in Österreich arbeitete. Jetzt hatte sie vier Jahre in einer Botschaft in Sarajevo gearbeitet, aber gekündigt, weil sie etwas anderes machen wollte. Sie strahlte viel Lebensmut aus aber war zu ängstlich, um Auto oder und Fahrrad zu fahren. Bemerkenswert. :-) Nachdem sie ausgestiegen war, legte ich mich wieder hin. Viel Schlaf war mir nicht gegönnt: noch zweimal wurde die Fahrkarte kontrolliert, einmal schauten Grenzpolizei und Zoll herein.