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  • Wetter: sonnig, nicht (zu) heiß

    Nachdem ich schon einige Zeit wach war, schaute ich nach der Zeit: fünf Uhr. Es war wieder viel Vogelgezwitscher und ein Specht zu hören, dazu das Rauschen der See.

    Diese Nacht hatte ich in langer Unterhose und dünnem Baumwoll-Pullover geschlafen und nicht gefroren, obwohl es ähnlich frisch war wie am vorigen Morgen. Gern hätte ich die genaue Temperatur gewusst.

    In Pärnu waren verschiedene Radrouten gut ausgeschildert. Ich folgte der Route 1 Richtung Süden. Diese wurde auf die E47 entlang geführt, einer gut asphaltierten und noch besser befahrenen Straße. ADAC und ADFC hätten vermutlich ihre Freude daran. :) Dann führte die Route 1 auf Dirtroads durch das Luitemaa Naturreservat.

    Zum Mittag hatte ich schon 61 km geschafft. Bei einem Aussichtsturm hielt ich an und stürzte beinahe, weil ich eine Sandale nicht von der Klickpedale gelöst hatte. (Das war übrigens das erste und bisher einzige Mal, obwohl ich die Pedale erst kurz vor der Tour angeschafft hatte.) Zum Glück schlug ich mir nur das linke Knie leicht am Fahrrad auf; es sah schlimmer aus als es war. Nachdem ich den Ausblick vom Turm genossen hatte, machte ich eineinhalb Stunden Pause. Kurz vorm Weiterfahren traf ich bepackte Radler, die auf meinen Gruß nicht antworteten. Ich hatte bereits zuvor festgestellt, dass die meisten Leute hier in der Tat nordisch kühl schienen. Auch die Kinder schauten höchstens verstohlen nach dem Reiseradler.

    14:05 überquerte ich die Grenze nach Lettland, auf der A1/E67 ging es weiter. Nach einer Stunde kam ich in einer Ortschaft, von der aus laut OSM-Karte eine "Kreisstraße" (tertiary) parallel zur A1 durch den Wald führen sollte. Es ließ sich ganz gut an, aber mit den letzten Häusern verschwand auch der Asphalt. Übrig blieb ein drei Meter breiter Sandweg, der nur mit Anstrengung zu befahren war. Wenn ich anhielt, um aus tiefem Sand herauszukommen oder um zu verschnaufen, fielen Bremsen und Mücken wie irre über mich her. Ungefähr eine halbe Stunde war ich auf dieser Piste unterwegs, gefühlt hat es ein Mehrfaches der Zeit gedauert. Ich wünschte der Person, die diese Wege eingetragen hatte, dass sie höchstpersönlich alle dieser falsch kategorisierten Pisten mit meinem Rad und Gepäck befahren müsste.

    Heute waren die Pufferakkus des Zzing nach etwa 5,5 Stunden Fahrt gefüllt genug, um die ersten leeren Akkus aufzuladen. Nachdem ich das Ladegerät mit den Akkus drin angeschlossen hatte, war nach weiteren 1,5 Stunden Fahrt das Zzing leer. Mit den "geladenen" Akkus lief das Garmin fünf Minuten. Toll.

    Nachdem ich wieder eine Weile auf Asphalt war, traf ich drei drei deutsche Radler, die per Flugzeug nach Tallin gereist waren sind und von Klaipedia mit der Fähre zurück nach Deutschland wollten. Leider ich zu fragen, woher sie kamen. Manchmal sollte ich weniger quasseln und mehr zuhören. ;)

    Ich hatte den dreien gegenüber gesagt, dass ich noch ungefähr zehn Kilometer fahren wolle, da mein Tagespensum schon erfüllt war. Es wurden aber fast dreißig, da sich die Suche nach einem geeigneten Schlafplatz schwierig gestaltete. Der gesamte Streifen zwischen Weg und Ostsee war in Privatbesitz. An einer Kreuzung in Ostseenähe gab es die Wahl zwischen zwei Sackgassen, die jeweils auf Privatgrund führten und einem ziemlich schlechten Waldweg. Ich musste mehrmals durch tiefen Schlamm fahren und schieben, die Laufräder und Schutzbleche hat es gefreut. Der Weg führte auf einen stark zerfahrenen Platz, von dem ein ebenso furchtbar zerfahrener vier Meter breiter Weg weiterführte. Das Navi zeigte eine nach 800 Metern kreuzende "Kreisstraße" an, also gings weiter - sehr mühsam! Der Weg wurde immer schlechter, man konnte nur stückchenweise fahren, dann wieder versank man im Sand. Noch etwas weiter musste ich das Fahrrad von einem Fleck auf den anderen hieven, um nicht in tiefe Schlammlöcher zu geraten.

    Ich folgte der nach rechts führenden Schneise. Vermutlich sollte das irgendwann einmal eine Straße werden. Aber wie sah es jetzt aus! Das Unterholz war bis zu 1,50 m hoch, Baumstämme lagen kreuz und quer. Von Fahren konnte man nicht einmal träumen. Das Fahrrad mitsamt dem Gepäck musste ich durch das Gestrüpp zerren, mehr als einmal verhakte sich das Hinterrad und riss mir so den Lenker aus der Hand. Bei einer dieser Gelegenheiten muss das Navi seine Halterung verlassen haben. Jedenfalls war es nicht mehr da, als ich schauen wollte, wie weit es noch bis zum Meer ist. Ich ließ das Fahrrad liegen und ging eine ganze Strecke zurück, um nach dem Gerät zu suchen. Da ich es nicht fand, nahm ich mir einen starken Ast und schlug das Gestrüpp nieder, um bessere Sicht zu haben. Nachdem ich das auf dem Hin- und Rückweg einmal erledigt hatte, war ich nach dieser erfolglosen halben Stunde völlig fertig. Immerhin hatte ich eine Brille einer weitsichtigen Person gefunden... Es wurde langsam dämmrig, der Wasservorrat ging zur Neige und ich war wer weiß wo. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, aus einer Situation womöglich nicht mehr lebend herauszukommen. Im gleichen Moment erschien mir der Gedanke lächerlich. Ich war doch nicht im Urwald, sondern höchstens einen Kilometer (Luftlinie) von einem Haus entfernt. Zur Not müsste ich ohne das lästige Fahrrad durch den Wald.

    Ich wollte erst einmal verschnaufen, doch nun wurden die Fliegen, Mücken und Bremsen extrem lästig. Als ich in Bewegung war, hatten sie mehr Abstand gehalten. Um wenigstens dieser Viecher Herr zu werden, zog ich lange Hosen und Pullover über, das Schlauchtuch bis zu den Augen hoch und den Hut tief in die Stirn. Nun konnte ich etwas ungestörter Atem schöpfen. Ich lauschte nach dem Brandungsgeräusch der See, aber im Wald war die Richtung des Rauschens nicht zu lokalisieren. Also plagte ich mich weiter und erreichte tatsächlich ich den Rand des Waldes. Nur: nach zehn Metern ging es eine steile Böschung hinauf, die daran anschließende Ebene war unglaublich dicht mit jungen Bäumen bewachsen. *seufz* Als ich das Fahrrad dort hindurch schleppte, wurde die vordere Packtasche mehrere Male aus der Halterung gerissen. Irgendwie kam ich auch durch dieses Dickicht und sah: einen Weg! und die Ostsee!! Allerdings lag das Wasser völlig still. Das Rauschen im Wald wurde von den Insekten verursacht...

    Auf dem Weg kam ein Auto und fuhr Richtung Norden. Meine Gedankenkette war: Auto -> Menschen -> Wasser! Ich schwang mich auf das Fahrrad und eilte hinterher. Das Schild "Privat, Betreten verboten" war mir egal. Der Weg endete auf einem Grundstück nahe am Meer, es war eine kleine Party im Gange, ein paar Mädchen hüpften auf einem Trampolin und sahen mich als Erste. Ein Mann kam zu mir und fragte nach meinem Begehren. Ich bat um Wasser und vielleicht um einen Platz zum Schlafen. Derweil kamen die Mädchen näher und schauten mich groß an. Ich sah aber auch aus: Lange Hosen, langer heller schmutziger Pullover, dito Hut und das Gesicht vom Schlauchtuch verhüllt. Eine etwa Siebzehnjährige wollte wissen: "Why do you travel Latvia by bike?" Ich sagte: "Because it's fun - mostly." Sie schaute trotzdem skeptisch. Vermutlich sah ich zwar funny aus, aber auch ziemlich fertig.

    Der Mann von vorhin kam wieder und führte mich in ein Badezimmer, wo ich meine Wasserflaschen auffüllen konnte. Das Wasser hatte eine grünliche Färbung und schmeckte etwas eigenartig. Dann zeigte er mir, wo auf der weiten Wiese ich übernachten durfte. Wir unterhielten uns ein wenig auf englisch. Sein Name war Agris, er arbeitete als Handwerker an dem Haus. Der Hausherr hatte ihm offenbar das Touristenmanagement überlassen, ich bekam ihn nicht zu Gesicht. Agris ging zurück zu der Feier, ich kümmerte mich um meine Sachen. Die Ostsee war hier flach mit steinigem Grund, im Wasser und am Strand lag viel Tang und müffelte vor sich hin. Trotzdem hielt ich große Wäsche: alles was ich trug und die Radlerhose vom Vortag. Zwischendrin hörte ich jemand meinen Namen rufen. Es war Agris, der mir eine Tasse Kaffee brachte und noch etwas mit mir schwatzte. Später verehrte er mir noch eine Flasche Bier, die ich hoch erfreut annahm.

    Im Lager verkroch ich mich schnell unter das Moskitonetz, um vor den fliegenden Blutsaugern meine Ruhe zu haben. Die wenigen, die mit mir unter das Netz geschlüpft waren, hatte ich schnell beseitigt. Meine Lebensmittelvorräte waren recht einseitig, das Müsli (ich konnte es nicht mehr sehen) quoll mir im Munde.

    Gegen 22:30 war Feierabend.

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